Übersetzung: ,,Der einzige Weg ins Morgen“ von Ayn Rand

by Alexander Will

Es handelt sich hier um einen sehr frühen politischen Text Ayn Rands. Er wurde bereits 1944 und damit noch vor der Zeit veröffentlicht, in der Rand das entwickelte, was später als ,,Objektivismus“ bekannt werden sollte. Sie bezieht sich hier daher sehr stark auf die Grundlagen der US-Verfassung, während ihre späteren erkenntnistheoretischen Überlegungen noch keine Rolle spielen. Gleichwohl erschallt bereits hier das auch heute so wichtige Grundanliegen hell und deutlich: Die Rechte des Individuums müssen die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens bilden. Kollektive Rechte existieren nicht. Jeglicher von einem Kollektiv ausgeübter Zwang führt zu Verfall.

Der einzige Weg ins Morgen

von Ayn Rand

Die schlimmste Bedrohung der Menschheit und der Zivilisation ist die Ausbreitung totalitären Denkens. Der beste Verbündete des Totalitarismus ist nicht die Hingabe seiner Anhänger sondern die Verwirrung seiner Gegner. Um ihn zu bekämpfen, müssen wir ihn verstehen.   

Totalitarismus ist Kollektivismus. Kollektivismus bedeutet die Unterordnung des Individuums unter eine Gruppe. Ob es sich dabei um eine Rasse, Klasse oder den Staat handelt, tut nichts zur Sache. Der Kollektivismus behauptet, daß der Mensch des „Gemeinwohls“ wegen an gemeinschaftliches Handeln und gemeinschaftliches Denken gebunden sein müsse.

Niemals ist ein Tyrann an die Macht gekommen, ohne sich auf das „Gemeinwohl” zu berufen. Napoleon diente dem „Gemeinwohl“ Frankreichs. Hitler dient dem „Gemeinwohl“ Deutschlands. Grausamkeiten, die kein klar denkender Mensch zur Befriedigung seiner egoistischsten Gelüste in Erwägung ziehen würde, werden mit klarem Bewußtsein von „Altruisten“ begangen, die sich mit dem „Gemeinwohl“ rechtfertigen.     

Kein Tyrann konnte sich auf die Dauer nur mit der Macht der Waffen halten. Menschen wurden vor allem mit geistigen Waffen versklavt. Die schlagkräftigste ist der kollektivistische Glaubenssatz, daß die Herrschaft des Staates über das Individuum das „Gemeinwohl“ darstellt. Kein Diktator könnte die Macht an sich reißen, wenn die Menschen es als geheiligte Überzeugung ansehen würde, daß sie unveräußerliche Rechte besitzen, die ihnen unter keinen Umständen genommen werden können, nicht von einem Schurken und auch nicht von einem angeblichen Wohltäter.   

Das ist der fundamentale Grundsatz des Individualismus. Dieser stellt fest, daß der Mensch ein unabhängiges Wesen ist, das ein unveräußerliches Recht besitzt, in einer Gesellschaft nach seinem eigenen Glück zu streben, in der die Menschen miteinander als Gleiche umgehen. 

Das amerikanische System ist auf dem Individualismus begründet. Wenn es überleben soll, dann müssen wir die Prinzipien des Individualismus verstehen und sie als Maßstab in jeder Frage des öffentlichen Lebens bemühen. Wir benötigen eine entschiedene Überzeugung und müssen diesen Maßstäben konsequent vertrauen.

Als das Böse schlechthin müssen wir die Idee betrachten, daß ein wie auch immer geartetes „Gemeinwohl” durch die Abschaffung individueller Rechte zu erlangen sei. Allgemeines Glück kann nicht aus allgemeinem Leid und Selbstaufopferung geschaffen werden. Die einzige glückliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft glücklicher Individuen. Es gibt keinen gesunden Wald voller verfaulter Bäume. 

Die Macht der Gesellschaft muß immer durch die grundlegenden, unveräußerlichen Rechte des Individuums begrenzt werden.

Das Recht auf Freiheit umfaßt das Recht des Menschen auf individuelles Handeln, seine eigene Wahl, eigene Initiative und Privateigentum. Ohne das Recht auf Privateigentum ist kein individuelles Handeln möglich.  

Das Recht auf das Streben nach dem Glück umfaßt das Recht des Menschen, sein eigenes Leben zu leben, zu bestimmen, worin sein eigenes, individuelles Glück besteht und dafür zu arbeiten. Jedes Individuum ist hier der einzige und letztgültige Richter. Worin sein Glück besteht, kann keinem Menschen von einem anderen Menschen oder einer Gruppe verordnet werden.

Diese Rechte sind die unbedingten, persönlichen, individuellen Besitztümer jedes Menschen. Sie sind ihm von Geburt an eigen und es bedarf keiner weiteren Bewilligung, um sie ihm zu gewähren.  So haben es die Gründerväter unseres Landes verstanden. Individuelle Rechte galten ihnen mehr als sämtliche Ansprüche des Kollektivs.

Seit Anbeginn der Geschichte stehen sich nun zwei Widersacher, zwei gegensätzliche Arten von Menschen gegenüber: der Aktive und der Passive. Der Aktive Mensch ist der Produzent, der Erschaffer, der Erfinder, der Individualist. Sein Grundbedürfnis ist Unabhängigkeit, um denken und arbeiten zu können. Weder braucht noch sucht er Macht über andere Menschen. Ihm ist es darüber hinaus unmöglich, unter irgendeiner Form von Zwang zu arbeiten. Jede Art guter Arbeit – vom Pflastern der Straßen bis zum Schreiben einer Symphonie – wird durch den Aktiven Menschen verrichtet. Die Fähigkeiten jedes Menschen sind unterschiedlich, aber das Prinzip bleibt das gleiche: Das Maß der Unabhängigkeit und der Initiative eines Individuums bestimmt sein Talent als Arbeiter und seinen Wert als Mensch.

Den Passiven Menschen findet man auf jeder Stufe der Gesellschaft, in Palästen und in Slums, und man identifiziert ihn an seiner Furcht vor der Unabhängigkeit. Er ist ein Parasit, der erwartet, daß andere sich um ihn kümmern, der es sich wünscht, daß man ihm Anweisungen gibt. Es liebt es zu gehorchen, sich zu fügen und kontrolliert zu werden. Er begrüßt den Kollektivismus, da dieser jede Möglichkeit ausschließt, daß er aus eigenem Antrieb denken oder handeln muß.  

Wenn eine Gesellschaft auf den Bedürfnissen des Passiven Menschen beruht, zerstört dies den Aktiven. Doch wenn der Aktive zerstört ist, wird sich niemand mehr um den Passiven kümmern. Wenn eine Gesellschaft jedoch auf den Bedürfnissen des Aktiven Menschen beruht, wird dieser den Passiven durch seine Energie stützen, ja ihn erhöhen, so wie er sich durch seine Tätigkeit selbst erhöht, so wie die gesamte Gesellschaft durch seine Arbeit verbessert wird. Dies ist das Muster jeglichen menschlichen Fortschritts.  

Einige Humanisten verlangen nun einen kollektivistischen Staat, weil sie den inkompetenten oder Passiven Menschen bemitleiden. Für sein Wohl wollen sie den Aktiven ins Joch spannen. Doch der Aktive Mensch kann nicht unter einem Joch arbeiten, und wenn er einmal zu Grunde gerichtet worden ist, wird automatisch auch der Passive Mensch zu Grunde gehen. Wenn also Mitleid der grundlegende Antrieb des Humanisten ist, dann sollte er im Namen des Mitleids den Aktiven Menschen in Ruhe lassen, damit dieser dem Passiven zu helfen vermag. Es gibt keinen anderen Weg, ihm auf lange Sicht zu helfen.  

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem Aktiven und dem Passiven Menschen, zwischen Individuum und Kollektiv. Die Länder, aus denen die glücklichsten Menschen hervorgegangen sind, die den höchsten Lebensstandart und den weitreichendsten kulturellen Fortschritt hervorgebracht haben, waren die Länder, in denen die Macht des Kollektivs – der Regierung, des Staates – begrenzt war und das Individuum die Freiheit zu unabhängiger Tätigkeit besaß. Beispiele: Der Aufstieg Roms mit seinem Konzept des Rechts, das auf Bürgerrechten beruhte gegenüber der kollektivistischen Barbarei seiner Zeit. Der Aufstieg Englands mit einem Regierungssystem, das auf der Magna Charta beruhte, gegenüber dem kollektivistischen, totalitären Spanien. Der Aufstieg der Vereinigten Staaten zu einer Höhe, bisher unerreicht in der Geschichte – eben wegen der individuellen Freiheit und Unabhängigkeit, die unsere Verfassung jedem Bürger gegenüber dem Kollektiv sichert.   

Während nun die Menschen über die Gründe für den Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen grübeln, schreit jede Seite in den Geschichtsbüchern, daß es nur eine Quelle des Fortschritts gibt: Den individuellen Menschen in unabhängiger Tätigkeit. Kollektivismus ist das uralte Prinzip der Barbarei. Die ganze Existenz eines Barbaren wird von den Fürsten seines Stammes bestimmt. Zivilisation aber ist der Prozeß, der den Menschen vom Menschen befreit. 

Wir haben nun die Wahl – voran zu schreiten, oder zurück zu gehen.

Kollektivismus ist nicht die ,,Ordnung der Zukunft”. Es ist die Ordnung eines sehr finsteren Gestern. Doch es gibt eine Neue Ordnung der Zukunft. Sie gehört dem individuellen Menschen  – dem einzigen Schöpfer aller Morgenröten, die der Menschheit je vergönnt waren.

Readers Digest, Januar 1944, S. 88-90