Staat und Freiheit
by Alexander Will
Der folgende Text wurde 1875 geschrieben. Die beschriebene Situation ähnelt fatal den heutigen Verhältnissen. Wir erleben, wie der Staat vergöttert wird, nur ihm die Lösung aller Probleme dieser Welt zugetraut, ja eine Art Heilserwartung mit ihm verbunden wird. Das Individuum hingegen ist insbesondere der politischen Linken in Deutschland heute der Teufel. Nicht umsonst werden Wahlkampfsloagans wie „Das Wir entscheidet“ in schamloser Weise aus der historischen Mottenkiste gezerrt. Solches Denken erinnert doch verblüffend an zwei ebenfalls staatsvergottende deutsche Diktaturen.
Der Todfeind […] [der] wahren persönlichen Freiheit ist nun der Absolutismus, jene Idee vom Staate, welche ihm eine absolute, eine unumschränkte Gewalt beilegt. Da nur Gott absolut ist, so liegt im Absolutismus zugleich eine Vergötterung des Staates. Wo diese Idee vom Staate Platz greift, da kann natürlich von dem Rechte des Individuums und seiner Freiheit keine Rede mehr sein; da ist die Idee der persönlichen Freiheit aufgehoben.
Der Absolutismus ist aber der Freiheit um so gefährlicher, je mehr er sich in gewisse freiheitliche Formen kleidet; desto mehr lassen sich nämlich viele durch diesen Schein täuschen […].
Im Grunde besteht gar kein Unterschied zwischen Ludwig IV., welcher seinen unumschränkten Willen als Gesetz geltend machte und ausrief ,Der Staat bin ich‘, und einem Robespierre und einem Liberalen unserer Zeit. Was sich jener zuschrieb, das muten jene der Gesetzgebung zu, die sie selbst in Händen haben. Die übrigen Menschen sind ihnen der Teig, an dem ihre Weisheit knetet.
Der Radikale Saint Just hat den Geist dieses Absolutismus der Gesetzgebung, welche jede persönliche Freiheit vernichtet, in klassischer Weise geschildert, als er in der französische National-Versammlung in lächerlichem Hochmut ausrief: ,Der Gesetzgeber befiehlt der Zukunft. Seine Sache ist es, das Gute zu wollen. Seine Aufgabe ist es, die Menschen so zu machen, wie er will, dass sie seien.‘
Das ist Wahnsinn, das ist unerzräglich; das ist Skalverei für alle, die nicht zur Majorität gehören; und das ist dennoch durch und durch der Gedanke aller Anhänger des modernen Staates, der Gedanke unter dessen Herrschaft wir auch jetzt stehen.
Wilhelm Emmanuel v. Ketteler, 23. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, Freiburg, 1. September 1875. In: Iserloh, Erwin: Wilhelm Emmanuel v. Ketteler. Mainz, 1987, S. 148f.