Moralisch am Ende
by Alexander Will
Die Kanzlerin ist erneut zum Kniefall in die Türkei gereist. Das kennt sie schon – sie ist dort inzwischen Dauergast. Doch diese Reise ist, mehr noch als die vorherigen, ein Offenbarungseid für Angela Merkel – diesmal ein moralischer.
Merkel rechtfertigt ihre bedingungslose Einladung für die Mühseligen und Beladenen aus aller Welt noch immer mit zutiefst moralischen Argumenten. Man hätte den Menschen im Sommer eine Perspektive geben müssen, die Lage auf dem Balkan und in Ungarn sei schlicht unerträglich gewesen. Sie sei aus zutiefst christlicher Motivation verpflichtet gewesen, zu handeln. Doch nun fliegt ihr die ganze schöne „Wilkommenskultur“ und all das „Wir schaffen das“ um die Ohren. Die Umfragewerte von Partei und Kanzlerin schmieren ab, die anstehenden Wahlen in drei Bundesländern drohen, desaströs auszugehen. Auch Merkel hat verstanden: Die Einwanderer-Zahlen müssen runter.
Doch sie zieht die politisch falschesten und moralisch anstößigsten Schlussfolgerungen. Sie lässt sich mit dem AKP-Regime in Ankara ein, deckt dessen politische Legenden und verharmlost sein blutiges Treiben.
Zunächst ist da die Legende, russische Luftangriffe und die Offensive des Assad-Regimes wären hauptverantwortlich für alle Unbilden der Situation. Da gilt es daran zu erinnern, dass der Flüchtlingsstrom zum einen in dem Moment über Europa hereinbrach, als Merkel ihre notorische Einladung ausgesprochen hatte. Zum anderen kocht der syrische Bürgerkrieg bereits seit 2011 – angeheizt und maßgeblich befeuert von Recep Tayyip Erdoğan und seinen islamistischen AKP-Jungs. Die Kanzlerin reicht nun dem türkischen Präsidenten die Hand, um die türkische Mitschuld am Syrien-Desaster zu verschleiern. Dabei brüskiert sie erneut Rußland – ein viel zu hoher Preis um ein Regime zu besänftigen, das nur seinen eigenen Vorteil kennt.
Vor allem aber paktiert Deutschland nun mit einer türkischen Regierung, die ohne Skrupel im Osten des Landes die eigenen Bürger abschlachtet. Seit Monaten ermordet die türkische Armee Zivilisten, erst am Montag sind erneut 60 Menschen von Soldaten getötet worden. Über die mit Stiefeln in den Schmutz getretenen bürgerlichen Freiheiten in der Türkei ließen sich viele Worte machen. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass zurzeit zwei Journalisten im Gefängnis sitzen und ihnen eine lebenslange Haftstrafe droht. Sie hatten Waffenlieferung der Regierung in Ankara an Islamisten in Syrien enthüllt.
Merkel weigert sich schlicht, zu Gunsten ermordeter Kurden und inhaftierter Journalisten zu intervenieren. Genau hier offenbart sich die moralische Rechtfertigung ihrer Flüchtlingspolitik als schlichte Heuchelei. Was sie dem einen zugesteht, verweigert sie dem anderen, weil sie die Kreise ihres zweifelhaften Verbündeten nicht stören will. Anders als noch vor zwei Jahren habe sich eben mit dem Syrienkrieg die Problemlage geändert, sagte die Kanzlerin flapsig in Ankara. Das moralische Mäntelchen Angela Merkels ist voller Löcher.