Reise in den inneren Orient Europas

by Sabine Mangold-Will

Gedanken an künftige Ruinen: Schnee über den Resten des alten Capua.

Auf Einladung eines italienischen Kollegen verbringe ich eine Woche in Santa Maria, dem alten Capua. Einst eine der Metropolen des Römischen Reiches, heute eines der Enden der europäischen Welt. Vier Stunden Reisezeit mit Flugzeug und öffentlichem Bus von Köln entfernt fängt der Orient an: der Süden, das Mittelmeer, Afrika so nah – so nah, daß es seine Menschen leicht hier anstranden kann. Wie menschliches Strandgut verstreut und beschädigt sitzen einzelne Afrikaner auf dem Weg vom Flughafen tatsächlich am Straßenrand. Die Palmen und die Orangen an den Bäumen verändern alles. Und dann sind da noch die kahlen Berghänge im Hintergrund und vor allem: die Wäsche an den Balkonen, der allgegenwärtige Zerfall, der staubige Charme, die dazwischen gestreuten mal edlen, mal plastikfarbenen Restaurants, die halbfertigen Luxusbauten ohne Fensterscheiben. Das ist mir alles so vertraut aus Damaskus, Kairo und Istanbul.

Einen sichtbaren Unterschied gibt es: Immer wieder sieht man diese gut aussehenden, schicken italienischen Männer in ihren Kaschmirmänteln und modischen Schuhen mit ihren Freundinnen oder Frauen am Arm, die im Wind ihr Haar schütteln. Ihr Anblick fesselt mich, weil ich mich frage, wie lange die jungen Pärchen im neuen Europa wohl noch knutschend auf den Bänken der Piazza sitzen werden dürfen? Und wie lange ich solche Sätze von gut aussehenden und modischen italienischen Männern noch schreiben darf, ohne von Studentinnen der Alice Salomon Hochschule verklagt zu werden?

Ich frage mich allerdings auch, ob man das unseren verwöhnten Kölner Studenten zumuten kann (und auch einigen meiner Kollegen)? Werden Sie das verkraften, was mein italienischer Kollege als „leicht chaotisch und anarchisch“ bezeichnet? Allein schon der Anblick? Ihh – das ist alles so dreckig, und das ist gar keine Großstadt, und alles so häßlich. Und Neapel ist eine Stunde mit dem Bus entfernt. Und der Bus erst! Er ist aus Deutschland. Wenn man einsteigt, hängt da immer noch ein Schild, auf dem steht: Bitte durchgehen! Soll heißen: Der wurde in Deutschland aussortiert. Für deutsche Busfahrer nicht mehr gut genug. Für italienische geht’s noch. Oder täusche ich mich und werden sie so begeistert sein wie ich? Weil sie ohnehin nur im Sommer kommen und die Wärme sie einlullt und die Sonne sie blendet?

Doch ich reise im Februar; es ist kühl. Aus den Bergen weht ein eisiger Wind. Morgen soll es sogar schneien. Und es ist Sonntag, als ich ankomme. Die Via Appia, die noch immer, wie schon vor 2000 Jahren, die Hauptstraße von Santa Maria bildet, ist verstopft von Autos. Ein scheinbar unendlicher Corso. Denn am Sonntagmorgen sind alles Geschäfte geöffnet: Markttag nach der Messe. Auch diese Sitte ist uralt; das meinten die Historiker der Annales-Schule, wenn sie von longue durée sprachen. Jetzt leeren sich die Straßen und die Piazza unterhalb des legendären Amphitheaters, in dem Spartakus ausgebildet worden war. Die Restaurants, Cafés und Läden schließen. Zeit für einen Mittagsschlaf nach den vormittäglichen Sonntagsvergnügungen: einkaufen, auf der Piazza promenieren, schwadronieren, gelangweilt herumhängen, telefonieren und natürlich sich selbst fotografieren, möglichst mit dem Amphitheater im Hintergrund.

Wenn man ein wenig wartet, kommt jedoch bald eine ganz andere Sorte Müßiggänger: die Bocchia-Spieler – ältere Männer, die mit ihren Fahrrädern oder im kleinen Fiat angefahren kommen. Zwei schlurfen aus eine Gasse auf den Platz zu, zielstrebig steuern sie die beiden riesigen Sandkästen auf der Piazza an. Einer von ihnen ist schon länger da und bereitet die Bahn vor. Den Besen, mit dem er die Spielfläche kehrt, hat er aus einem der Bäume geangelt, die die Bahnen im Sommer beschatten. Weil es in den letzten Tagen geregnet hat, wird eine Pfütze mit einem alten Lappen ausgetrocknet. Dann fährt er mit seinem Besen immer und immer wieder gewissenhaft wie ein Gärtner über die Bahn und streicht den Sand glatt. Langsam finden die Spieler zusammen.  Einer hat seinen kleinen Hund dabei. Nachdem er ausgiebig über die Wiese am Rande der Piazza getollt ist, liegt er nun in der Sonne unter dem Baum am Rande der Sandbahnen.

Was den italienischen Orient noch vom nahöstlichen Orient unterscheidet? Fast hätte ich geschrieben: das Christentum, die Nonnen, die Marienstatuen in den Fenstern und die Christusfiguren am Wegesrand. Doch einerseits weiß ich nur zu sehr um die Sichtbarkeit des orientalischen Christentums, wenn ich an Damaskus oder Bethlehem denke. Zum anderen rückt all das auch hier immer mehr an den Rand. Dennoch ist es noch da. Und nicht einmal mehr in Köln sieht man am Sonntag noch so viele Nonnen auf der Straße, schon gar nicht bepackt mit Plastiktüten voller Einkäufe oder mit Bassstimme nach „Antonio“, dem Fahrer, rufend, der es sich mit einer Zigarette auf einer Bank gemütlich gemacht hat und mehr oder weniger geflissentlich die Aufforderung der Schwester Oberin überhörte.

Was also ist anders? Die Löcher in den Straßen, das Heizen mit der Klimaanlage, das Bezahlen am Eingang beim Patron an der Kasse im Café – all das ist es nicht. Daß es eine Patronin sein kann, das ist es schon eher. Das gäbe es in Syrien oder Ägypten nicht. Und auch wenn es, wie mir die Kollegen ungefragt erklären, in Italien noch immer manches Problem mit „Machismo“ gibt; um die Präsenz von starken Frauen braucht man sich in Italien nicht zu sorgen. Die Dekanin in Santa Maria hat jedenfalls hörbar Haare auf den Zähnen. Und die Studenten, die in meine Erasmus-Sprechstunde kommen, um sich über einen Studienaufenthalt in Köln zu informieren, sind alles junge, energische Frauen.

Und doch sehe ich mit Beklemmung, was nicht nur diese jungen Frauen antreibt: Hier an dieser kleinen Universität im nördlichen Mezzogiorno läßt sich mit Händen greifen, was uns allen bevorsteht, wenn Staat und Privatleute gerade noch so viel Geld in der Hand haben, um den status quo mühsam zu erhalten. Das wenige, das die Bürger noch übrig haben, wird nicht mehr in die Renovierung oder gar Verbesserung gesteckt, sondern gespart, um sich irgendwann in die verbleibenden Wohlstandszonen dieser Welt aufzumachen. Noch gehört Deutschland dazu; doch wie lange das so bleibt, vermag niemand zu sagen. Die Trümmer von Capua zeugen davon, daß selbst die erfolgreichste Zivilisation einmal ihrem Ende entgegengeht. Und was wird dann einmal von unserer Kultur zeugen? Die Zweckbauten der deutschen und europäischen Universitäten des 20. Jahrhunderts werden es wohl nicht sein; und wenn, dann nur, weil Beton so schlecht verrottet. Auch das läßt sich hier nur zu gut beobachten, im inneren Orient Europas.