Anmerkung zur ,,neuen Bürgerlichkeit“
by Alexander Will
In Deutschland geht ein Popanz um – die Bürgerlichkeit. Jeder will heute bürgerlich sein. Die Union und die FDP waren es nach ihrem Selbstverständnis schon immer. Die SPD gewöhnte sich unter der Führung Schröders bürgerliche Attitüden an, und die Grünen beginnen mit dem Postulat einer ,,Neuen Bürgerlichkeit” sogar, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Klar ist jedoch, daß jede dieser Gruppen etwas völlig anderes unter Bürgerlichkeit versteht. Da nun in der deutschen Debatte heillose Verwirrrung über die eigentliche Bedeutung der ,,Bürgerlichkeit“ herrscht, wäre der Begriff zu klären.
Historisch beschrieb das Wort nichts anderes als die Lebensform des Bürgers im Gegensatz zu Adel und Bauernstand. Dieser Schicht gelang es, erheblichen Besitz anzuhäufen und damit Machtpositionen aufzubauen. Doch nicht das macht den heute noch wichtigen Kern der Bürgerlichkeit aus, sondern der damit verbundene Wertekanon und die daraus resultierende Mentalität. Insbesondere der Stolz auf Leistung und eigenen Erfolg, sowie die überragende Bedeutung der Bildung für den Bürger kennzeichnen letztere. Die Gewißheit, daß durch harte Arbeit, persönliche Vervollkommnung und Aneignung von Bildung gesellschaftlicher Aufstieg beziehungsweise die Sicherung des gesellschaftlichen Ranges möglich ist, gehört ebenso hierher wie der bürgerliche Wertekanon.
Dieser Wertekanon umfaßt die Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Glaube, Hoffnung, Liebe und – nicht weniger wichtig – auch die später von der 68er-Generation diffamierten Sekundärtugenden Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit und Sauberkeit. Äußere Zeichen dieser Art von Bürgerlichkeit waren und sind volle Bücherschränke sowie ein oft zu beobachtender Verzicht, sich den Moden des Zeitgeistes zu unterwerfen. Letzteres, der Verzicht, ist ein wichtiger Aspekt des Ganzen, denn Bürgerlichkeit bedeutet eben auch, seine Launen und Triebe zu bezähmen, Disziplin zu üben und die eigenen Wünsche hinter als notwendig erkannten Pflichten einzuordnen. Bürgerlich zu sein heißt also, einer Reihe von Imperativen gerecht zu werden und ist keineswegs eine Schönwetter-Angelegenheit. Es ist eine Haltung, die mit Mühen verbunden, und deswegen vielen Menschen lästig ist. Man könnte sogar sagen, es gibt Menschen, die eben wegen dieser Forderung an den Charakter und wohl auch die natürlichen Anlagen nicht imstande sind, eine bürgerliche Haltung zu entwickeln und zu leben.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich nun die bürgerliche Sicht der Welt in Deutschland als dominierend durchgesetzt. Die Gesellschaft – auch der Adel – akzeptierte die bürgerlichen Werte allgemein als das zu lebende Ideal. Doch schon mit dem Ersten Weltkrieg geriet dieses Konzept in eine schwere Krise: Zum einen entstanden eine Massengesellschaft und Ideologien, die Menschen nicht als einzelnes, zu perfektionierendes Wesen betrachteten, sondern ihn nur unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zu einer Gruppe Wert zumaßen. Zum anderen schienen die bürgerlichen Werte nicht in der Lage gewesen zu sein, auf dem Felde praktischer Politik die Katastrophe des Krieges zu verhindern.
Die Krise der Bürgerlichkeit in der Politik erstreckte sich jedoch vorerst nicht auf den Konsens weiter Kreise des Volkes, also daß es für den Einzelnen erstrebenswert sei, nach diesen Werte zu leben. Nicht zuletzt aus gelebter Bürgerlichkeit wuchs der Widerstand gegen Diktaturen auf Basis von Massenideologien wie dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus.
Das galt bis zu dem verheerenden Jahr 1968. Es markiert den Beginn eines Prozesses, der diese Werte selbst abschaffen will. Wir befinden uns heute am Ende dieses Zeitabschnittes und müssen feststellen, daß Bürgerlichkeit nur noch in wenigen, wenn auch wichtigen Nischen geschätzt und gelebt wird. Bürgerlichkeit ist heute zuförderst eine kulturelle Kategorie. Wir können in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Klasse, Schicht und kein festgefügtes Milieu mehr identifizieren, das Träger der Bürgerlichkeit wäre. Bis zum Schicksalsjahr 1968 war das anders. Da gab es zum einen das Bildungsbürgertum, das zwar materiell nicht völlig unabhängig war, jedoch seinen führenden Platz in der Gesellschaft durch überlegene Bildung und durch eine Ethik des Aufstieges sicherte. Zum anderen existierte das Wirtschaftsbürgertum, dem dieses durch die Macht seines Besitzes gelang. Beiden gleich waren jedoch Haltungen und Werte, die man als bürgerlich versteht.
Heute kann Bürgerlichkeit also nur noch in dieser kulturellen Form sinnvoll faßbar sein. Es gibt kein klassisches Besitzbürgertum, es gibt kein fest gefügtes Bildungsbürgertum mehr. Betrachten wir die sozioökonomische Schichtung in Deutschland durch die Brille des eben formulierten Begriffes ,,Bürgerlichkeit”, dann erkennen wir, daß sich diese Haltung von den Klassen und Schichten gelöst hat. Wir finden in der besitzenden Schicht, unter dem Mittelstand, den leitenden Angestellten und den Rentiers heute die schlimmsten Beispiele antibürgerlicher Haltung und antibürgerlichen Verhaltens. Gleiches gilt für das Personal an deutschen Universitäten und das, was sich in diesem Lande für intellektuell hält, also früher einmal zum Bildungsbürgertum gezählt hätte. Zum einen wird dort die eigene Position in der Regel – unabhängig von der erbrachten Leistung – mindestens als angemessen betrachtet, das Leistungsethos ist diesen Gruppen völlig abhanden gekommen. Zum anderen sind die Grundwerte von keinerlei Wichtigkeit mehr.
Allerdings finden wir heute Bürgerlichkeit eben auch in Schichten, die weder besitzend sind, noch eine Bildungstradition besitzen. Wenn der Absolvent einer Hauptschule mit aller Macht danach strebt, einmal seine eigene Kfz-Werkstatt zu eröffnen, seinen Gesellenbrief erwirbt und seinen Meister macht, dann ist das zutiefst bürgerliches Verhalten.
Man könnte nun meinen, hier werde Bürgerlichkeit komplett entpolitisiert. Das ist jedoch nicht der Fall. Wer den bürgerlichen Grundkonsens teilt – Leistungsethos, Aufstiegsorientierung und Wertekanon – der wird sich immer auch dafür interessieren müssen, wie das Gemeinwesen funktioniert und wie es sich entwickelt, der wird in der Regel eine politische Haltung entwickeln, obwohl es auch eine Menge unpolitischer Bürgerlicher gibt. Diese politischen Haltungen aber werden von Mensch zu Mensch differieren, so wie ja auch der bürgerliche Grundkonsens ein sehr weiter ist. Ein Liberaler kann ebenso bürgerlich sein wie ein Konservativer. Ein Kommunist jedoch, ein Nationalsozialist, Sozialist oder ein Grüner kann niemals bürgerlich sein, denn diese Ideologien schließen den bürgerlichen Konsens explizit aus. Um der Vollständigkeit halber gilt es zu erwähnen, daß es durchaus auch antibürgerliche Konservative gab.
In dieser Hinsicht ist auch der Begriff einer ,,bürgerlichen Partei” absurd. Er ist im Übrigen auch erst in der degenerierenden BRD zu seiner gegenwärtigen Popularität gelangt. Der Begriff wird von CDU/CSU und FDP nur gebraucht, weil man dort nicht recht weiß, wo man politisch steht. Die CDU will nicht konservativ sein, der Liberalismus der FDP ist nur schlecht verbrämter Karrierismus. Man schwankt im Wind und beruft sich auf etwas, über das man sich jedoch aus lauter Denkfaulheit noch niemals Gedanken gemacht hat. Daher rührt auch die merkwürdige Idee in CDU und FDP-Kreisen von der angeblichen ,,Bürgerlichkeit” der Grünen. In Wahrheit kann der bürgerliche Mensch nicht auf ausschließlicher Basis seiner Bürgerlichkeit Politik machen. Diese kulturelle Grundprägung ist dafür nämlich nur begrenzt geeignet und wird auf viele Fragen keine Antworten liefern können. Der Bürgerliche wird sich also zu einem politischen Wesen häuten müssen, zu einem Nationalliberalen, Wirtschaftliberalen, Konservativen oder gar – auch das soll es geben – Monarchisten. In diesen verschiedenen ,,Funktionen” werden Bürgerliche für deutsche Dekadenzerscheinungen unterschiedliche Heilmittel entwickeln. Sie werden ihre politischen Programme als Konservative, Liberale oder Monarchisten formulieren müssen. Diese aber werden, eben weil sie von Menschen mit einem Grundkonsens entwickelt worden sind, einen bürgerlichen Geist atmen.
Und nun kommen ausgerechnet die Grünen und versuchen, sich als Partei einer ,,neuen” Bürgerlichkeit zu verkaufen. Dabei sind sie doch die Partei der Alt-68er, die sich mit Nachdruck um die Beseitigung der letzten Reste deutscher Bürgerlichkeit bemüht haben. Dieser Widerspruch – er ist nur ein scheinbarer. Die Antwort ist im Generationswechsel zu suchen, der auch bei den Grünen eingesetzt hat.
Die heute um die 40-Jährigen sind auf besondere Weise sozialisiert worden. Im Westen war die größte reale Sorge dieser Generation, daß Mutti vergessen hat, die Nutella-Vorräte aufzufüllen. Diese Generation ist zum großen Teil in behütenden Elternhäusern aufgewachsen, kannte niemals materielle Sorgen und wurde (übrigens ein Zeichen von Bürgerlichkeit) durch gewöhnlich gute Ausbildung bestens auf des Lebens Schwierigkeiten vorbereitet.
Auf der anderen Seite erlebte diese Generation aber auch eine beispiellose Indoktrination seitens ihrer Eltern und der Schulen. Sie wuchs auf mit aufgeblasenen Weltuntergangszenarien, die sich in kürzester Zeit abwechselten. Heute war es das Waldsterben, morgen der NATO-Doppelbeschluß und übermorgen Tschernobyl. Wer dann noch von seinen Eltern zu Ostermärschen geschleift worden ist, die Frauengruppe der Mutter ständig erleiden mußte und Papis Ex-K-Gruppen-Genossen in alten Revolutionsseeligkeiten schwelgen hörte, mußte einen seelischen Defekt davontragen.
Genau danach verhalten sich heute die Eliten der ,,neuen Bürgerlichkeit”. Sie leben in einer Welt, die geprägt ist von der Sehnsucht nach der heilen Nutella-Welt ihrer Kindheit, von Realitätsverweigerung, weil sie sich wirkliche Not trotz ihrer apokalyptischen Indoktrinierungsepisoden nicht vorstellen können und von einem diffusen Linkssein. Dieses wiederum führt vielfach zu innerer Zufriedenheit, da Linkssein in Deutschland heute gleichbedeutend mit der Überzeugung ist, immer auf der richtigen Seite zu sein. Freya Klier hat das einmal so beschrieben:
Links kennt keine Grenzen. Ob du kochst wie Biolek oder Menschen entführst wie Markus Wolf: Hauptsache, die fünf Buchstaben zieren dein Button. Während Rechts das politische Todesurteil bedeutet, ist Links das ’Sesam-öffne-dich’ ins Reich der Guten, weshalb besonders Unsichere das Wörtchen wie eine Grubenlampe vor sich hertragen … Wer links ist, braucht kein Schamgefühl, keinen menschlichen Anstand, kein Geschichtswissen: Er befindet sich a priori auf der Seite der Guten. Und nur auf dieses eine Wort reagiert der Reflex: Du kannst einen Linken einen Lügner, Raffke, Menschfeind nennen, es wird ihn kalt lassen. Selbst ’Kinderschänder’ dürfte an ihm abperlen wie Regen am Ostfriesennerz. Doch nennst du ihn einen Rechten, dann geht er hoch wie eine Rakete.
Nicht zu unterschätzen für die Geisteshaltung dieser Kreise ist darüber hinaus die Art und Weise, wie sie ihr Geld verdienen: Man läßt sich sich in der Regel vom Staat alimentieren und hat auf diese Art genügend Muße, sich zu überlegen, wie denn das Geld anderer Leute am besten auszugeben wäre.
Im Osten hat diese Generation eine etwas andere Prägung erfahren. Meist wuchs sie ebenso behütet, wenn auch mit weniger Wohlstand gesegnet auf. Die Wende-Erfahrung jedoch vermittelt ihr zumindest den Ansatz des Bewußtseins für die Fragilität gesellschaftlicher Zustände. Das aber spielt heute fast keine Rolle mehr. Man will jetzt in Ruhe gelassen werden, so sein wie die Wessis, sich angleichen. In der linken Spießer-Oase Prenzlauer Berg ist deswegen Ost von West heute nicht mehr zu unterscheiden.
Die vielbeschworene neue Bürgerlichkeit ist nun nichts anderes als die Melange all dieser Lebenserfahrungen. Man möchte das Behütete behalten, dabei links sein, vor allem aber bequem und unbelästigt leben. Die Imperative eines bürgerlichen Lebensstiles sind da Störfaktoren.
Man übernimmt also als ,,neuer Bürgerlicher” letztlich nur die Hülle echter Bürgerlichkeit. Man konsumiert Bürgerlichkeit, lebt sie nicht. Die Altbauwohnung, die Regale voller ungelesener Bücher, die Vorliebe für Weine, die man allerdings ohne tiefere Kenntnisse und Liebe am liebsten nach Parker-Bewertungen aus dem Katalog bestellt, all das ist konsumierte Bürgerlichkeit. Es fehlen jedoch die Kerne. Echte Bildung, die immer mit Anstrengung verbunden ist, wird man in den Häusern der ,,neuen Bürgerlichen” kaum finden, stattdessen die Vorliebe für einen Kein-Kind-Darf-Zurückbleiben-Faschismus, der letztlich auf Nivellierung nach unten hinausläuft. Man wird kein Bemühen finden, sich selbst zu verbessern und schwerlich jegliche Reflexion über die Bedeutung eines solchen Vorhabens.
Statt dessen sind die Symbole der neuen Bürgerlichkeit Politische Korrektheit und die Mülltrennungseimer in den Küchen der Altbauten. Das eine schafft Denkverbote, grenzt vom ,,bösen Rechten” ab und ist so konstituierend für die ,,neuen Bürgerlichen”. Das andere ist ein Beispiel für sinnlose Rituale, die dazu dienen, sich ,,besser zu fühlen”. Das Leistungsethos ist unterdessen in Vergessenheit geraten. Der Umverteilungsstaat hat den Stolz auf den eigenen Erfolg verdrängt. Wenn der Aufstieg nicht klappt, auf den man ein Recht zu haben glaubt, dann sind immer die anderen Schuld, dann hat der Staat versagt, weil ER ja gefälligst alle glücklich zu machen hat. Immer ist der Staat, sind die ,,Umstände”, die ,,gesellschaftlichen Verhältnisse”, ist irgendwelche ,,Diskriminierung” Schuld.
Diese ,,neue Bürgerlichkeit” ist also letztlich nichts anderes als ein Mißbrauch des Begriffes, hat sie doch mit echter Bürgerlichkeit nicht das geringste zu tun. Die Grünen segeln unter falscher Flagge. Ihre ,,Bürgerlichkeit” ist nur eine Mischung aus linker Ideologie und dem Lebensgefühl der wohl verwöhntesten und dekadentesten Generation, die Deutschland seit 1871 erlebt hat.