Großoffensive an allen Fronten
by Alexander Will
Dies ist die ungekürzte Version einer Analyse, die am 24. September 2015 in der Nordwest-Zeitung erschienen ist. Hier geht es zur kürzeren Variante.
Wer in den 90er Jahren in Syrien unterwegs war, konnte sie gelegentlich sehen: Etwas zerlumpte russische Soldaten in alten Jeeps, die im Basar von Aleppo ihren Privatgeschäften nachgingen. Das war zu Zeiten Boris Jelzins, in denen das russische Militär insgesamt regelrecht verkam und auch die Marinebasis im syrischen Tartus nur von einer Handvoll Soldaten besetzt war. Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist Syrien zu einem zentraler Punkt der russischen Geo- und Militärpolitik geworden, und das hat mehr als einen Grund.
Die durch den syrischen Bürgerkrieg ausgelöste Flüchtlingskrise betrifft Russland so gut wie nicht. Die Ursache dieser Völkerwanderung – der Aufstieg des Islamischen Staates (IS) sowie weiterer radikal-islamischer Milizen jedoch um so mehr.
Zum einen kann die schiere Existenz des IS und seine ideologische wie territoriale Expansion die ohnehin labilen, vom Islam geprägten Staaten an der russischen Südgrenze destabilisieren. Zum anderen leben innerhalb der russischen Föderation zwischen zehn und 16 Millionen Muslime, unter denen es erhebliches Potential für Radikalisierung gibt. Das gilt insbesondere für die Kaukasusregion. In Moskau hat man nicht vergessen, dass in den 90er Jahren zwei Kriege gegen islamistische Rebellen in Tschetschenien geführt werden mussten. Jüngst veröffentlichte Zahlen des Inlandsgeheimdienstes FSB machen dieses innenpolitische Problem deutlich: Danach kämpfen mehr als 2400 russische Staatsbürger auf Seiten des IS in Syrien und dem Irak. Verschiedene islamistische Milizen in Syrien veröffentlichen inzwischen ihre Mitteilungen lieber zusätzlich auf Russisch als auf Englisch, was sich nur mit zielgerichteten Missionsbemühungen in Russland erklären lässt.
Syrien ist jedoch auch Russlands letzte Bastion im Mittelmeerraum. Fällt das Regime unter Baschar al-Assad, würde diese ganz sicher verloren gehen. Für Präsident Wladimir Putin, der am Comeback seines Landes als Weltmacht arbeitet, wäre das ein empfindlicher Rückschlag. Er würde die Ambitionen Moskaus auf Jahre hinaus zerstören. Angesichts des syrischen Bürgerkrieges wurde der kleine Stützpunkt in Tartus für Russland also zu einer Art Einfallstor, durch das sich verschiedene geopolitische Zielstellungen in der Region möglicherweise verwirklichen lassen.
Zudem hat das offenkundige Scheitern der Amerikaner bei der Bekämpfung des IS für Moskau ein Zeitfenster für den ungehinderten Aufbau eigener militärischer Machtmittel in Syrien geöffnet. Die Luftangriffe der westlichen Anti-IS-Allianz vermochten nicht, die Islamisten wesentlich zurückzuwerfen. Zu einer noch viel größere Pleite wurde das Ausbildungsprogramm der Amerikaner. Jährlich sollten 5400 einheimische Kämpfer ausgebildet und zum Einsatz gegen den IS gebracht werden. Von der ersten Gruppe, die aus 54 Absolventen bestand, sind jetzt noch vier Mann am Leben. Der Rest wurde von Kämpfern der Al-Nusra-Front getötet oder lief einfach davon. Die republikanische Senatorin Kelly Ayotte kommentierte das Programm in einer Anhörung mit den Worten „Das ist ein Witz!“.
Unterdessen hat die russische Armee ein regelrechtes Expeditionskorps nach Syrien verlegt. Das Fachmagazin „IHS Jane’s“ veröffentlichte am Dienstag Satelliten-Aufnahmen eines südlich von Latakia gelegenen Flughafens. Darauf sind mindestens zwölf SU-24 Jagdbomber, zwölf SU-25 Erdkampfbomber, vier SU-30 Mehrzweckjäger sowie rund ein Dutzend MI-24 und Mi-17 Kampfhubschrauber zu erkennen. Amerikanische Analysten gehen angesichts der Zusammensetzung der russischen Luftflotte davon aus, dass sie vor allem die gepanzerten IS- und Al-NusraVerbände angreifen, sowie der syrischen Regierungsarmee Luftunterstützung geben soll. Rätselraten herrscht über die SU-30 Jäger, da die Islamisten keine Luftwaffe besitzen. Die Amerikaner glauben, es handle sich dabei um eine indirekte Warnung an den Westen, die russischen Erdkampfflugzeuge bei ihrem Tun nicht zu behindern.
Moskau dementiert bisher, mit Bodentruppen in Syrien aktiv zu sein. Das allerdings ist nicht glaubwürdig, da der russische Generalstab sehr wohl weiß, dass mit Luftschlägen allein kein Krieg zu gewinnen ist und die syrischen Regierungstruppen nur noch eingeschränkt zu einer entscheidenden Offensive in der Lage sind. Am Donnerstag meldeten dann auch israelische Militäranalysten der Debka-Gruppe unter Berufung nicht näher genannte Geheimdienstkreise, dass erstmals russische Bodentruppen der Marine-Brigade 810 direkt in die Kämpfe um Aleppo eingegriffen hätten. Bereits eine Woche zuvor seien russische Kommando- und Funkleitfahrzeuge vom Typ R-166-0,5 in Gefechten an der Straße zwischen Homs und Aleppo gesichtet worden. Auch dort habe mindestens eine Kompanie Marineinfanterie im Kampf gestanden.
Ebenfalls bereits seit einer Woche scheint die russische Aufklärung die Regierungsarmee massiv zu unterstützen. Darauf deuten Nachrichten von Regime-Offizieren im Nachrichtendienst Twitter hin. Im Kampf um Palmyra hätten russische Sattelitenaufnahmen es der Armee ermöglicht, bis auf wenige Kilometer an das Stadtzentrum heranzukommen, hieß es dort.
Der russische Aufmarsch wird von Moskau geschickt diplomatisch abgesichert. Es ist kein Zufall, das der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gemeinsam mit Präsident Wladimir Putin am Mittwoch in Moskau die neue Zentralmoschee eröffnete. Ganz sicher wurde bei dieser Gelegenheit nicht nur über Architektur gesprochen, ist doch die Türkei durch ihre Unterstützung der islamistischen Milizen ein wesentlicher Faktor im syrischen Bürgerkrieg.
Eine weitere interessierte Macht ist Israel, das durch die Aufrüstung Assads Gefahren für seine Sicherheit befürchtet. Der Besuch des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu – den Armeechef Gady Eisenkot begleitete – führte am Montag zu einer Interessanabgrenzung der beiden Länder. Moskau sicherte offenbar zu, dass keine Angriffe der Assad-Armee auf israelisches Gebiet stattfinden würden, dafür solle Israel davon absehen, die russischen Operationen zu behindern. Die Oberkommandos der beiden Armeen richteten einen Konsultationsmechanismus, einen Heißen Draht, ein, der verhindern soll, dass Truppen der beiden Mächte aufeinander schießen. Auch von der Koordination einzelner Aktionen zur See und in der Luft ist hinter vorgehaltener Hand die Rede – ja verschiedene höherrangige Mitarbeiter des israelischen Sicherheitsapparates spekulierten in der vergangenen Woche sogar darüber, dass es besser sein könnte, Assad an der Macht zu belassen, wenn dadurch und mittels der russische Militärmacht wieder Stabilität jenseits der Grenze einzöge.
All das sind beachtliche diplomatische Erfolge des Kremls, stehen Israel und Russland doch militärisch eigentlich in zwei verschiedenen Lagern. Israels Generalstab ist indirekt in das US-Oberkommando eingebunden, während Jerusalems Erzfeind Iran eng mit Russland kooperiert.
Der militärische Aufmarsch Russlands und die diplomatische Offensive des Kremls, die auch das Angebot an den Westen umfasst, ein breites Anti-IS-Bündnis einzugehen, zeigte in den letzten Wochen bereits Wirkung. Am Samstag gab US-Außenminister John Kerry den amerikanischen Widerstand gegen das russische Engagement in Syrien auf und kündigte Konsultationen darüber mit Moskau an. Darüber hinaus brach er mit einem lange vertretenen Standpunkt Washingtons und besteht nun nicht mehr auf der sofortigen Abdankung Assads. Am Donnerstag zog auch Deutschland nach: „Es muss mit vielen Akteuren gesprochen werden, auch mit Assad“, sagte Kanzlerin Angela Merkel.
Was auch immer also die russischen Truppen auf dem Schlachtfeld erreichen werden, eines ist sicher: Russland hat durch seine Initiativen die Dinge in der Syrienfrage nach vielen Jahren Stillstand schon jetzt wieder in Bewegung gebracht. Und das ist an sich schon bemerkenswert.