Misericordia oder Die Barmherzigkeit in Neapel
by Sabine Mangold-Will
In Neapel regnete es. Nein, es regnete nicht nur. Das Wasser floß in nicht enden wollenden Tropfenschnüren die Fensterscheiben hinab. Vom Frühstückraum meines Hotels aus hatte man einen Blick auf den Hafen mit seinen großen Kreuzfahrtschiffen. Doch diesmal erinnerte das alles eher an die Nordsee im Herbst als ans Mittelmeer.
Es war ein Fehler, daß ich mich trotzdem auf dem Weg machte. Ich hatte nur einen Tag in Neapel und wollte unbedingt die Stadt sehen. Schon nach 10 Minuten war ich komplett durchnäßt. So getränkt und von Melancholie befallen, kehrte ich in mein Hotelzimmer zurück, und begann zu schreiben. Wenn man schon auf neue Erfahrungen verzichtete, nur um alte schreibend noch einmal zu erleben, dann waren solche Regentage am besten dazu geeignet.
Irgendwann nach Mittag hatte Petrus endlich ein Einsehen. Es hörte auf zu regnen. Ein italienischer Kollege hatte mir zwei Pizzerien auf der Via Tribunali empfohlen. Obwohl es grau und trist blieb, hatte ich kein Glück. Vor beiden reichte die Schlange der Wartenden bis auf die Straße. Man wurde nur eingelassen, wenn jemand ging. Ein paar Schritte weiter beobachtete ich, wo zwei Verkehrspolizisten einkehrten. Ihnen folgte ich und wurde mit einer passablen Pizza, Wasser, Dolce und Caffè für weniger als 10 Euro belohnt. Kurz nach mir fiel eine italienische Großfamilie ein, bestellte Babà für alle und verbreitete einen unfaßbaren Lärm. Der einzige, der leer ausging und sich still in eine Ecke verzog, war ihr rostbrauner Kurzhaardackel, dem das nasse Wetter und die vielen Menschen sichtbar zusetzten.
Nachdem ich den bittersüßen Rest aus Kaffee und Zucker aus meiner Tasse gekratzt hatte, machte ich mich auf, hinauf zum Pio Monte della Misericordia. Caravaggios Madonna der Barmherzigkeit wollte ich sehen. Als ich endlich davorstand, in der kalten, unbeheizten Kirche, schien es mir, als müsse dieser Michelangelo sie bei genau so einem Regenwetter gemalt haben: als die Straßen Neapels mit ihren nassen basaltschwarzen Pflastersteinen besonders düster wirkten, die Hauseingänge besonders klamm und die Straßenecken besonders schmierig waren. Caravaggios Madonna der Barmherzigkeit gibt dem Bild den Namen. Doch wenn man davorsteht, muß man fast nach ihr suchen. Diese Madonna hält sich zurück, sie will in ihrer Schönheit mit dem blonden Kind im Arm nicht auffallen. Die Barmherzigkeit geht nicht von ihr aus; sie schützt sie nur. Die Barmherzigkeit ist Sache der ganz normalen Menschen: Die häßliche Hure übt sie. Der reiche Edelmann, der seinen Mantel teilt, übt sie. Und der sonst so geldgierige Gastwirt übt sie, indem er den Jakobspilger aufnimmt. Hier ist nichts hehr oder edel und doch alles groß. Wer anders, als der Säufer und Mörder Caravaggio vermochte so tief in die Menschen schauen und so überzeugend von der Gnade erzählen, derer wir alle bedürfen?
Was wissen die Heiligen Johannas vom Proseminar (das Copyright für diesen Begriff liegt bei einem Historiker-Kollegen, der mir diesen Diebstahl hoffentlich verzeiht), was wissen die Studentinnen der Alice Salomon Schule und die moralinsauren „Putzfrauen“ in unseren Museen, von denen man fürchten muß, daß sie Caravaggio demnächst auf den Index setzen werden, von all dem? Vom verletzten, gemarterten, beschädigten, durstenden und in jeder Hinsicht bedürftigen Menschen?
Mir, der Katholikin vom Rande der Republik, erschien das immer als die tiefe Größe des Christentums: daß es genau diesen geschundenen Menschen in seiner ganzen erbärmlichen Leiblichkeit in den Mittelpunkt stellt. Das, so scheint es mir heute, ist mittlerweile die wahre Provokation, die keiner mehr sehen will: Da hängt er, der Gekreuzigte, der aus seinen Wunden Blutende, der Zermarterte, der Mensch; und er will einfach nicht weichen. Er bleibt, obwohl draußen auf den Werbeplakaten doch nur noch das Perfekte, Gestylte, Gerade und Makellose propagiert wird. In Caravaggios Madonna der Barmherzigkeit ist jeder – diejenigen, die Barmherzigkeit empfangen, wie diejenigen, die sie üben – eine Erscheinung eben dieses leidenden Menschen. Wir alle, sagt uns Caravaggio, haben Barmherzigkeit nötig, aber wir alle, sind in jedem Moment auch in der Lage, Barmherzigkeit zu üben und zu empfangen.
Was mich an der gegenwärtigen Debatte um die Kunst schockiert und traurig stimmt, ist daher neben der intellektuellen Kurzatmigkeit, vor allem die Erbarmungslosigkeit dieser vermeintlichen Moralisten. Sie glauben, der Barmherzigkeit nicht mehr zu bedürfen, weil sie der Hybris der eigenen Moral verfallen sind, und haben die Barmherzigkeit gleich mit entsorgt. Im Islam hießt Gott im Koran an zentraler Stelle „der Barmherzige“ und „der Allerbarmer“: ar-rahman ar-rahim. Islamisten, die offenbar allesamt des Lesens unkundig oder des Arabischen nicht mächtig sind, glauben auch, sie hätten die Moral für sich und bedürften weder der Barmherzigkeit als Tugend noch des Erbarmens.
Ich will nicht schreiben: Holt die Barmherzigkeit endlich in die Wertedebatte. Das ist wie mit der Heimat. Nein, laßt bitte die Finger davon. Barmherzigkeit ist nichts für den Markt. Barmherzigkeit passiert in der Stille: dort wo ein Ehemann seine demente Frau pflegt, dort wo ein Kollege über den Fehler seines Büromitbewohners schweigt, dort wo einem Humpelnden ein Sitzplatz im Bus angeboten wird.