Subjektive Porträts aus Israel (2) – Eine Frau nimmt Abschied vom sozialistischen Traum
by Alexander Will
Weil mir in Israel jede Menge interessanter Leute über den Weg laufen, habe ich mich entschlossen, einige zu porträtieren. Diese Porträts sind absolut subjektiv und bemühen sich auch nicht um “Objektivität”.
Adva Boyland (58) führt gern Besucher durch den Kibbutz Nof Ginnosar am Ufer des Sees Genezareth in Nordisrael. Das Land hier liegt ihr am Herzen, man sieht das in der Art, wie sie die Gegend beschreibt und auch an Veränderungen leidet: „Früher war das einmal ein Strand“, sagt sie und zeigt auf eine Wiese, die in schilfbestandenes Flachwasser übergeht. „Jetzt ist der Wasserspiegel des Sees aber so gesunken, daß wir ihn nicht mehr nutzen können.“
Ja, natürlich, sagt sie auf Nachfrage. Der verlorene Strand und der sinkenden Seepegel machen den Kibbutzniks zu schaffen. Es sind aber andere Veränderungen, viel grundlegendere Veränderungen, die das Leben hier komplett umgekrempelt haben. Was Adva Boyland dann erzählt, ist die Geschichte des Abschieds von einem Traum – des Abschieds vom Traum eines jüdischen Sozialismus. Es ist die Geschichte ihres ganz persönlichen Abschiedes und der Veränderung der Institution „Kibbutz“ von einer bäuerlichen Kommune zu einem ganz normalen Wirtschaftsunternehmen.
Boylands Vater war einer der ganz frühen Mitglieder des Kibbutz Nof Ginnosar. Am Purimfest des Jahres 1937 hatte eine Gruppe junger, idealistischer jüdischer Sozialisten das von Arabern erworbene Land in Besitz genommen und den Kibbutz gründete. Es handelte sich in diesen Jahren im Wesentlichen um eine Schlammwüste, man lebte in Zelten und später einfachen Hütten, entwässerte das Land, legte Felder an – und lebte in engster Gemeinschaft.
An persönlichem Eigentum besaß jeder nur das, was er auf dem Leibe trug – alles andere war Gemeinschaftsbesitz. Die Kinder wurden nur wenige Monate nach der Geburt in einem Gemeinschaftskindergarten erzogen. Sie sahen ihre Eltern nur wenige Stunden am Tag, auch die Nächte verbrachten sie in der Gemeinschaftsunterkunft, getrennt von Vater und Mutter. So wuchs auch auch Adva Boyland auf. Wie ertrug man das als Kind? „Oh – die wenige Zeit mit den Eltern war eben besonders intensiv. Und wie sollte das auch anders gehen? Arbeitskräfte waren knapp. Die Mütter mussten ja auf den Feldern mitarbeiten“, erzählt sie.
Doch dieses sozialistische Idyll – wenn es denn je eines war – existierte nur wenige Jahrzehnte. Es scheint, als ob der wachsende Wohlstand, der wirtschaftliche Erfolg des Kibbutz, der in jenen Jahren im Wesentlichen auf dem Anbau von Bananen beruhte, den unbedingten Gemeinschaftssinn, den Verzicht auf Privatsphäre, Intimität und auch privaten Besitz langsam unterminierte. Boyland macht den Niedergang der Kibbutz-Idee jedenfalls an einer wegweisenden Entscheidung des Kollektivs fest: Man beschloss, die Kinder nicht mehr gemeinsam zu erziehen, sondern den Eltern zu erlauben, sie im eigenen Haushalt aufwachsen zu lassen.
Diese Entscheidung brach nicht nur die erste Bresche in den sozialistischen Gemeinschaftsgeist, sie führte auch zu wirtschaftlichen Problemen. Adva Boyland: „Die Häuser der Paare waren nicht groß genug. Jetzt, da die Kinder bei den Eltern leben sollten, musste erweitert werden, und das kostete viel Geld.“ Aber auch die Kibbutz-Mitglieder hatten sich verändert. Die Jüngeren bezweifelten zunehmend die Attraktivität eines solchen Gemeinschaftsprojektes. Auch Boyland verließ den Kibbutz – für mehr als 20 Jahre.
In dieser Zeit änderte sich das Land und änderten sich die Rahmenbedingungen. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre begann der Niedergang der israelischen Arbeiterpartei, auf die sich die sozialistischen Kibbutze immer hatten verlassen können. Neue konservative Regierungen stoppten die Subventionen. Massive wirtschaftliche Probleme waren die Folge. Der Ausweg: Privatisierung. Aus Mitgliedern wurden in den 90er Jahren Anteilseigner. Überall in Israel geht das so. Die Privatisierungen in den Kibbutzen laufen noch immer.
Mit der Privatisierung brach am See Genezareth auch der letzte Rest sozialistischer Folklore zusammen. Adva Boyland zeigt auf den leerstehenden Speisesaal: „Früher aßen hier alle drei Mal am Tag gemeinsam. Nach der Privatisierung kocht nun jeder für sich.“ Auch die wirtschaftliche Basis veränderte sich. Nof Ginnosar baut zwar noch immer Bananen an, Haupteinnahmequelle ist aber längst der Tourismus. Ein Hotel wurde gebaut, ehemalige Unterkünfte der Kibbutz-Pioniere sind zum Feriendorf geworden. Das Unternehmen boomt. Heute wohnen wieder fast 500 Leute im Kibutz, der nun im Grunde ein ganz normales Dorf ist. Die Häuser gehören heute ihren Bewohnern.
Adva Boyland bedauert diese Veränderungen. Zwar verließ sie einst den Kibbutz für mehr als 20 Jahre, jetzt sieht sie aber durchaus Vorteile in einem Leben in enger Gemeinschaft. Aber hat die Kibbutz-Idee in ihrer ursprünglichen Form überhaupt noch Zukunft.? Sie denkt kurz nach und sagt dann: „Eine Art von Gemeinschaftsleben wird es immer geben. Aber die Kibbutz-Idee wird nur überleben, wenn es Menschen gibt, die das attraktiv finden.“
Die Alten, die Pioniere von einst, müssen sich mit dem Scheitern ihrer sozialistischen Idee abfinden. Einige taten dies in aller Konsequenz. Zum Beispiel Adva Boylands Vater. Als die Kibbutz-Vollversammlung die Privatisierung beschloss, sagte er zu seiner Tochter: „Veränderung ist gut und muss sein. Aber nennt es nicht mehr Kibbutz.“ Er packte seine Sachen und verließ als alter Mann Nof Ginnosar.