Eine Geschichte von zwei Großvätern

by Sabine Mangold-Will

Wie ein Abend im Dezember unversehens zu einem Absturz in die deutsche Geschichte führte, hat Sabine Mangold-Will aufgeschrieben.

Am 3. Dezember 2021, dem Freitag vor dem 2. Advent, war Chanukka-Schabbes: der Tag mit dem das achttägige Fest Chanukka endet. Obwohl wir nicht jüdisch sind, ist es seit vielen Jahren ein Teil unseres Lebens, unserer ganz eigenen Erinnerungskultur: Wir erinnern uns an unser Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem und die vielen außergewöhnlichen Menschen und Erlebnisse, die uns dort begegneten.

Auch dieses Jahr haben wir am Abend acht Kerzen angezündet. Der Dreidel mit den hebräischen Buchstaben Gimmel, He, Nun und Schin lag wie immer auf dem Tisch. Ganz, Halb, Nichts und Stell ein lauten die Anweisungen für das Spiel um den Groschen-Einsatz. Wir haben es diesmal nicht gespielt, obwohl es sonst immer eine rechte Gaudi war. Aber in diesen Tagen, unter der irgendwie doch bleiernen Schwere der Pandemie, sind uns diese kleinen Freuden ein wenig verloren gegangen. Wenigstens die Latkes, die Riewekoche wie der Köllner sagen würde, haben himmlisch geschmeckt.

Im Laufe des Tages waren, wie immer, dutzende von Emails bei mir eingegangen. Aber zwei davon ließen mich den ganzen Tag über nicht los. Denn obwohl es letztlich ein Zufall war, daß sie genau im gleichen Moment ankamen, steckte in ihnen mehr: Es war – nein kleiner geht es nicht – wieder einmal die geballte deutsche Geschichte.

Vertriebener Wissenschaftler

In meiner Arbeit als Historikerin beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit dem, was eine Kollegin, Susannah Heschel, in einem ihrer Bücher „Jüdischer Islam“ genannt hat: die Beschäftigung und Begegnung deutscher und deutschsprachiger Juden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit dem Islam, der islamischen Welt und Muslimen. Während meiner Gastprofessur in Jerusalem hatte ich begonnen, mich intensiver mit dem zweiten Direktor der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Gotthold Weil zu beschäftigen: ein Berliner Bibliothekar und Orientalist, der bereits lange vor seiner unfreiwilligen Übersiedlung nach Jerusalem über das Verhältnis zwischen Judentum und Islam als historische religiöse wie kulturelle Erscheinungen nachdachte.

Nach einem Vortrag über Weil anläßlich der Gründung ihrer Orientalischen Abteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin lernte ich seinen Enkel kennen. Er hatte den Mitschnitt des Festabends und meinen Vortrag auf YouTube gefunden und mich kontaktiert. Daraus war ein produktiver Arbeitskontakt entstanden, der uns beide bereicherte.

Nachdem wir länger nicht voneinander gehört hatten, schrieb Weils Enkel mir am Freitagmittag eine kleine Nachricht mit Chanukka-Grüßen. Dabei war ein Photo des Chanukka-Leuchters seines Großvaters. Und was dem Enkel durch den Kopf ging, berührte auch mich, weil ich dazu beigetragen hatte, all das, was nun als Fakten vor uns stand, zu erforschen: der festliche Leuchter stammte aus den Tagen vor dem Weltkrieg, als Gotthold Weil geheiratet hatte. Er hatte den Weltkrieg gesehen, die Tage der Spanischen Grippe, an denen Weils junge Frau gestorben war, er war mit ihm aus Deutschland ausgewandert, als die Nationalsozialisten versuchten, jüdisches Leben in Deutschland auf immer auszulöschen, er hatte in Jerusalem auf dem Tisch gestanden, als der junge Staat Israel 1948 um sein Entstehen kämpfte. Nun stand er, restauriert in altem Glanz, nach vielerlei Irrungen und Wirrungen wieder irgendwo in Europa auf einem Tisch und erleuchtete den Chanukka-Abend seines Enkels.

Es war eine Ehre und eine Freude, daß ich daran teilhaben durfte. Und während ich mein „Chanukka Sameach“ zurückschickte, kam die andere Mail.

Spuren eines Karrieristen

Sie kam aus dem Bundesarchiv Berlin, eine sachliche Nachricht nach einer fachlichen Anfrage. Durch meinen Beruf als Historikerin war ich in den letzten Wochen unversehens in eine regionale Debatte um die NS-Vergangenheit in der Region verwickelt worden, in der ich lebe. Es ist eine Region, in der die Nationalsozialisten bereits vor 1933 erhebliche Wahlerfolge erzielten.

Für die Nachgeborenen kommen solche Erkenntnisse zuweilen immer noch überraschend; so wie es für mich immer wieder überraschend ist, wie überrascht Menschen darauf reagieren, daß ihre Großeltern womöglich mit dem Nationalsozialismus sympathisiert haben könnten. Und während ich also mit dem Enkel eines Mannes korrespondierte, der 1935 weitsichtig die Koffer gepackt hatte und diesem Land den Rücken kehrte, das schließlich einen Teil seiner Familie ermorden würde, kam diese Nachricht über den Großvater eines anderen Enkels, der ebenfalls mit mir Emails wechselte.

Die Nachricht war ein Auszug aus der zentralen NSDAP-Mitgliederdatei.

Da stand, was so gern verdrängt worden wäre: Eintritt in die NSDAP am 1. Mai 1933. Der 1. Mai 1933 war, die NS-Forscher wissen das, ein ganz besonderer Tag, um in die NSDAP einzutreten. An diesem ersten „Tag der nationalen Arbeit“ war eine überdurchschnittliche Zahl an Beitritten zu verzeichnen. Das hing damit zusammen, die NSDAP am 19. April 1933 mit Wirkung für den 1. Mai 1933 eine reichsweite Aufnahmesperre für Neumitglieder verhängt hatte. Die NSDAP selbst war sich nur zu bewußt, daß nach ihrem Sieg bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 Konjukturritter und Opportunisten aller Couleur einen Aufnahmeantrag gestellt hatten. Sie reagierte darauf mit dem Aufnahmestopp, zu dem es im Verordnungsblatt der Reichleitung der NSDAP am 30. April 1933 hieß:

Nach diesem Zeitpunkt darf keine Dienststelle der Bewegung Neuanmeldungen mehr entgegennehmen. Die Gaue können bis längstens 15. Mai die vor dem 1. Mai bei den Dienststellen eingegangen Neuanmeldunen der Reichsleitung vorlegen.

Dieser Großvater also war mehr als nur ein Märzgefallener, er war einer, der der Versuchung nicht erlegen war, noch schnell kurz vor Tores Schluß Mitglied der NSDAP zu werden, einer der von den örtlichen Stellen zugelassen worden war für diese Anmeldung, der also höchstwahrscheinlich Fürsprecher bei der lokalen NSDAP hatte, um seine „späte“ Mitgliedschaft noch durchzusetzen.

Deutsche Geschichte

Das also war der Tag: der 1. Mail 1933, der für den einen der Großväter die Hoffnung auf Prestige- und Machtzuwachs, auf noch mehr Wohlstand und Ansehen, kurz auf eine bessere Zukunft einherging, während der andere nicht mehr nur ahnte, sondern zu wissen begann, daß für ihn und seine Familie, daß für die deutschen Juden, diese Deutschen jüdischen Glaubens, in diesem Land keine, gar keine Zukunft mehr gegeben war.

Gotthold Weils Chanukka-Leuchter leuchtet wieder! – aber nicht in Berlin. Und ganz nahe in meinem Dorf tut man sich noch immer schwer, beide Familiengeschichten zu begreifen als das, was sie sind: unsere gemeinsame geteilte deutsche Geschichte.