Der Konservative als Revolutionär
by Sabine Mangold-Will
Den ,,weißen Revolutionär“ hat der Frankfurter Historiker Lothar Gall ihn genannt und selbst die DDR-Geschichtsschreibung hat ihn zuletzt als „Epoche machend“ gesehen: Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen. Sein Geburtstag jährt sich am 1. April zum 200. Mal. Grund genug, über die moderne Widersprüchlichkeit dieser historischen Persönlichkeit zwischen Revolution und Konservativismus einen Moment nachzudenken. Nur wenige andere Figuren der deutschen Geschichte haben die Geschichtsschreiber und politischen Journalisten des 19. und 20. Jahrhunderts so sehr beschäftigt wie der Reichskanzler des 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Zugleich hat sich bei nur wenigen anderen Figuren der europäischen Geschichte das historische Urteil so sehr gewandelt. Wenigstens drei Phasen lassen sich ausmachen:
Am Anfang stand das emphatische Urteil vieler Zeitgenossen, die in Bismarck den Gründer des deutschen Nationalstaates feierten, ja glorifizierten. Die Nationalsozialisten inszenierten sich schließlich als Bismarcks Vollender und trugen damit erheblich zu seiner nachfolgenden Dämonisierung bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es vor allem die junge sozial-liberale Geschichtswissenschaft der Bonner Republik, die den Gründer des Nationalstaates als ersten „Schuft“ der deutschen Geschichte identifizierte. In seinem vermeintlich planvollen, manipulativen „Genie“ sahen sie die Ursache des „deutschen Sonderwegs“. Damit war vor allem die als „unglücksselig“ empfundene verzögerte politische Demokratisierung Preußens wie des Reiches gemeint. Zusammen mit dem gesellschaftlichen Konservativismus, also dem Festhalten am Vorrang des Adels, dem Schutz von ostelbischen Großgrundbesitzern und Großindustriellen sowie der Akzeptanz alles Militärischen, galt diese angeblich spezielle Entwicklung als Weg in die deutsche Katastrophe. Und Bismarck galt als ihr Verursacher.
Erst zu seinem 100. Todestag 1998 wurden die Urteile ruhiger und differenzierter. Bismarck hatte aufgehört ein Kampfbegriff, eine Symbolfigur im Weltanschauungskrieg zu sein. Und so hat bei aller Revision der Revision die vorsichtig abwägende, Person und Prozesse berücksichtigende Sichtweise der späten 1980er und 90er Jahre im wesentlichen bis heute Bestand. Die neue wiedervereinigte Berliner Republik hat sich mit dem Gründer des deutschen Nationalstaates ausgesöhnt, und dort, wo das nicht ging, durch Historisierung entschärft. Was aber kann das meinen – ein konservativer Revolutionär? Worin bestand also Bismarcks Konservativismus, worin das Revolutionäre?
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 als Sohn des Gutsbesitzers Ferdinand von Bismarck und der durchaus schönen und gebildeten Wilhelmine Mencken an der Elbe geboren: Zwischen Revolution und Konservativismus zu stehen, war ihm also in vielerlei Hinsicht in die Wiege gelegt. Zunächst waren da die Werte der Französischen Revolution: Einheit, Freiheit, Brüderlichkeit – Nation, Verfassung und sozialer Ausgleich –, die auch Bismarcks Lebenszeit prägten. Dieser Geist ließ sich von keinem mehr überreden, in die Flasche zurückzukehren und zu verschwinden. 1815 war das Jahr des Wiener Kongresses, der die territoriale, rechtliche und soziale Umwälzung dieser Französischen Revolution und ihres Vollstreckers Napoleon teilweise akzeptierte, teilweise jedoch zurückzudrängen versuchte. Das 19. Jahrhundert begann also quasi mit dieser Widersprüchlichkeit zwischen Veränderung und Bewahrung. Und Bismarck war insofern eben nicht der große Manipulator. Er erschuf keine neuen Ideen oder Ziele, er handelte nur mit den vorhandenen und verhandelte sie neu in „Deutschland“: Wie viel Nationalstaat sollte es sein? Wie viel Verfassung sollte es geben? Wie viel sozialer Ausgleich war wünschenswert?
Dabei war Bismarck selbst bereits das Kind der Verschmelzung alter und neuer Eliten und Werte. Sein Vater gehörte einem uralten preußischen Adelsgeschlecht an, vererbte seinem Sohn nicht nur Standesbewusstsein, sondern auch große landwirtschaftliche Güter. So konnte sich das Ideal von aristokratischer politischer Freiheit auch als wirtschaftliche Unabhängigkeit äußern. Bismarcks Mutter indes stammte aus einer bürgerlichen Familie von Gelehrten und hohen Beamten. Sie verpflichtete ihren Sohn auf die Werte des bürgerlichen Zeitalters: Ökonomie, Rationalität und Verfasstheit des Staates. So war Bismarck aus alltäglicher, familiärer Erfahrung weder die beharrende Haltung des landbesitzenden Adels fremd, der auf seine aristokratische Freiheit und seinen Widerwillen gegen bürokratische Einordnung pochte, noch das Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums, das neben der freien wirtschaftlichen und geistigen Betätigung auch politische Mitsprache einforderte. Zugespitzt formuliert, könnte man sagen: Bismarck war geradezu „Revolution“ und „Konterrevolution“ in einem.
Was ihn zum Konservativen machte, war das unbedingte Beharren auf dem Primat monarchischer, dynastischer Herrschaft, der besonders in Konfliktsituationen Richtschnur allen politischen Handelns darstellte. Hinzu kam ein grundsätzlicher Vorbehalt des denkenden und handelnden Individuums gegen die Masse und ihre destruktive Kraft, wie sie sich in der Französischen Revolution geäußert hatte. Der Staat und sein Gewaltmonopol, insbesondere seine Verfügung über das Militär und damit über Krieg und Frieden, erschienen dagegen die einzige Rettung zu sein.
Diese monarchische Grundorientierung umfasste indes gerade nicht die Unterordnung unter den konkreten Willen des Monarchen, wenn Bismarck diesen als unzureichend erkannt zu haben glaubte. Widerspruch gegen „seinen“ König, Wilhelm II. von Preußen – seit 1871 Kaiser Wilhelm I. – zeichnete ihn aus – bis zum nervlichen Zusammenbruch widersetzte sich Bismarck einem allzu persönlichen Regiment von König und Kaiser. Darin war Bismarck ebenso altständisch wie revolutionär: Absolut sollte und konnte kein Herrscher des 19. Jahrhunderts mehr regieren; alle mussten Kompromisse machen, brauchten verbündete Eliten, die weiterhin Vorteile in einer monarchischen Herrschaft fanden. In diesem Sinne war Bismarck die Verkörperung des fortschrittlichen adlig-bürgerlichen Bündnisses. Auch daß sich Bismarcks konservatives Misstrauen gegen immer mehr Bürokratisierung des Staates letztlich gerade nicht durchsetzte, ja er selbst sogar zu dieser modernen Entwicklung beitrug, gehört bereits zu seinen „revolutionären“ Aspekten. Denn mehr Verwaltung, Gesetzgebung und berufsmäßige Politiker im Verfassungsstaat waren Forderungen und Entwicklungen des liberalen und demokratischen Bürgertums.
Der Begriff der „Revolution von oben“, den schon die Zeitgenossen mit Bismarck verbanden, um ihre Irritation über seine Art und das Ziel seiner Politik in den Griff zu bekommen, war zunächst und zuallererst mit seiner Nationalpolitik verbunden. Dabei ging es zunächst um die Entscheidung zwischen „großdeutscher“ und „kleindeutscher“ Regelung: also um das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Großmächten Preußen und Österreich. Zum Unwillen der preußischen Konservativen akzeptierte Bismarck letztlich die Forderung der liberalen Revolutionäre von 1848 Preußen im deutschen Nationalstaat aufgehen zu lassen. Was heute gern übersehen wird, ist der Umstand, daß das eigentliche Ringen um diese nationale Lösung nicht erst 1870/71 stattfand. Viel wichtiger waren die 1860er Jahre; in ihnen ereignete sich die eigentliche „Revolution“: die Gründung des Norddeutschen Bundes, der aus dem Krieg gegen Österreich 1866 hervorging und den klein- deutschen Nationalstaates vorwegnahm.
„Revolution von Oben“ war aber auch die gesellschaftliche wie rechtliche Verfasstheit dieses neuen (nord)deutschen Staates. Zum einen gab es hier bereits das Austarieren zwischen monarchischem Primat, politischer Vertretung des Bürgertums in einem frei gewählten Parlament (allgemeines Männerwahlrecht) und politischer Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Zum anderen bewegten sich genau in diesem Moment der Bundeskanzler Bismarck und die sich formierenden Nationalliberalen aufeinander zu. Schon 1866 zeichnete sich das Bündnis zwischen Bismarck und den Liberalen ab, das für das frühe Kaiserreich so wesentlich werden würde: Bismarck und seine Regierung erkannte in der Indemnitätsvorlage (Indemnität = nachträgliche Legitimierung rechtswidrigen Ausnahmezustandes) das grundsätzliche Budgetrecht des Parlamentes an und erfüllte damit eine der zentralen Forderungen der Liberalen.
„Revolution von oben“ bedeutete schließlich auch die Sozialgesetzgebung des Kaiserreiches. Sie war eindeutig und unmißverständlich manipulativ gegen die politische Arbeiterbewegung und ihre Forderung nach Demokratisierung und sozialer Umwälzung gerichtet. Aber sie beförderte zugleich die von Bismarck gefürchtete Bürokratisierung des Staates als Lösung der „sozialen Frage“ – oder wie wir heute sagen würden: der sozialen Umverteilung. Die gesamte Entwicklung des gleichermaßen gelobten wie kritisierten modernen Sozialstaates hat mit Bismarcks konservativ gemeinter Revolution ihren weltweiten Ausgangspunkt genommen.
Als das deutsche Reich endlich gegründet war, notierte der neuen Reichskanzler Bismarck, den alle Welt auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen sah: „Ich bin müde. (…) Ich würde am liebsten von der Bühne in eine Zuschauerloge abtreten.“ Das war nicht nur Koketterie, sondern auch die Einsicht, daß seine eigentliche Anstrengung hinter ihm lag: Er hatte eine realisierbare Verfassung für die deutsche Nation gefunden, die offen genug war, in alle Richtungen weisen zu können. Wie das Verhältnis von Bürokratie und Freiheit des Einzelnen, von politischer „Führung“ und bürgerlicher Beteiligung, von innerer und äußerer Sicherheit und der Freiheit zu politischer Ignoranz künftig in diesem konstitutionellen Deutschland weiter verhandelt werden würde, lag nicht mehr allein in seinen Händen. Das musste (und muß) die bürgerliche Gesellschaft des deutschen Staates immer wieder selbst leisten. Bismarcks Haltung – so läßt sich mit Lothar Gall resümieren – war dabei in jedem Detail eine Position der außen- wie innenpolitischen Mäßigung und Verständigung – selbst im Moment seiner oft mißinterpretierten Rede von „Eisen und Blut“ – gegenüber dem Monarchen und dem Militär wie gegenüber dem Staat und den Bürgern.
Dieses Essay ist die ungekürzte Version eines Textes von Prof. Dr. Sabine Mangold-Will, der am 28. März 2015 in der Nordwest-Zeitung in Oldenburg erschienen ist.