Zum ersten Mal: Purim in Jerusalem

by Sabine Mangold-Will

Es ist Purim. Letztes Jahr war ich in Jerusalem. Ich, die Schickse, hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Doch was mich erwartete, hat sich in meiner Erinnerung in einer schrägen Mischung aus Melancholie und brüllender Komik unauslöschlich festgesetzt.

Die Farben des Tages waren Pink und Schwarz, und ganz viel Froschgrün und Rosa. Kermits und Miß Piggys bevölkerten im letzten Jahr scharenweise die Purim-Feste. Nicht nur auf der Feier, zu der ich eingeladen war – dem Fest der Studenten und Dozenten der Judaistischen Abteilung der Hebräischen Universität – waren die beiden anwesend; auch auf den Bildern von den Straßenumzügen in Tel Aviv konnte man sie häufig entdecken.

Orientalismen hingegen gab es kaum zu bewundern; der Anblick des bösen Perserkönigs Haman mit Turban und bunt glänzendem Seidenkaftan, der auf keinem deutschen Purim-Ball des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fehle durfte, war in Jerusalem doch eher selten. Seine Ohren hingegen ließen sich in jeder Bäckerei kaufen: Hamans Ohren, Oznei Haman, süße Teigtaschen mit Nüssen oder Schokoladenfüllung, mit Zimt und Rosinen; ich konnte mich gar nicht genug daran satt essen. Sie schmeckten wundervoll. Wie schade, daß es sie in Deutschland nicht zu kaufen gibt, jedenfalls nicht da, wo ich wohne.

Während ich reichlich Hamansohren in mich hineinstopfte, las ich am Tag nach Purim erst einmal in der Bibel das Buch Esther. Esthers gab es übrigens auch kaum in Jerusalems Straßen. Sich in sich selbst zu verkleiden, machte ja auch wenig Sinn; nur die kleinen Mädchen im rosa Prinzessinnenkostüm träumten wohl noch davon, so klug zu werden, wie die Königin Esther einst war.

Auch das politische Israel, das jedes Purim nutzt, um an den Überlebenswillen des jüdischen Volkes zu appellieren, hatte letztes Jahr eine besonders dankbare Rolle: Nur zehn Tage später standen die Neuwahlen zum Parlament an, und der Wahlkampf lief auf Hochtouren. Angesichts des gleichzeitig verhandelten Atomkompromisses zwischen den USA und dem Iran brauchte der Ministerpräsident kaum viel zu sagen, um die Erinnerung an den Schlächter Haman in eine Kampfansage gegen den Iran und ein Votum für seine Partei zu wenden.

Meine Gastprofessorin hatte mir geschrieben: „Wollen wir zusammen zu Purim gehen? Unser Institut gibt eine kleine Feier. Übrigens: An Purim verkleidet man sich und soll ein Kostüm tragen.“ Karneval in Jerusalem? Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte es mir nicht einmal richtig vorstellen. Ich hatte jedenfalls in meinem Koffer nichts, aber auch gar nichts, was auch nur annähernd als Verkleidung hätte dienen können.

Eher fein als verkleidet, mit schwarzer Hose und einer schwarz-roten Rose an der schwarzen Bluse, wartete ich wie verabredet in der Emek Refaïm vor einem Café, von wo aus wir gemeinsam zur Party gehen wollten. Ich fror. Es war noch kalt im März in Jerusalem. Auch darauf war ich nicht vorbereitet. Genauso wenig wie auf die dritte Lektion des heutigen Tages: Schon die Suche nach einem Taxi hatte sich nämlich als Einführung in die alltägliche Zerrissenheit der Stadt erwiesen. Der arabische Taxifahrer, der zuerst auf mein Winken nahe meiner Wohnung auf French Hill hielt, weigerte sich in den Westteil der Stadt zu fahren. Als ich mein Ziel nannte, winkte er ab und brauste davon

Meine Begleiterin kam pünktlich, mehr als pünktlich. Und sie war zu meiner Erleichterung auch nicht verkleidet. Sie trug zwar einen Schlips und hatte einen kleinen Männerhut in der Hand. Da sie aber ohnehin immer Hosen trug, war das nicht wirklich eine Verkleidung, eher eine Betonung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Bedeutung in der Universität. Bevor wir zur Party gingen, lud sie mich zu einem Sahlep ein. Noch eine neue Erfahrung.

Aus Damaskus kannte ich Muhallabiye – was ich, um ehrlich zu sein, nicht sehr mag. Ich fand immer, daß der Lieblingspudding der Damaszener nach Rosenseife schmeckt. Aber Sahlep, warm und mit Zimt, war an dem kalten Abend ein Genuß und verstärkte das Gefühl in mir, daß ich mich in Jerusalem wohl fühlen würde. Der Auftakt im Café war die erste Gelegenheit, nachdem ich kaum acht Tage zuvor erst in Jerusalem angekommen war, ein wenig mit meiner Professorin zu plaudern. Es wurde ein intensives Gespräch, in dem ich von mir erzählen mußte: wo ich herkomme, meine Familie, mein Werdegang, meine Pläne.

Meine Gesprächspartnerin entgegnete meine Offenheit, indem sie mir von ihrem Vater erzählte. Von einem Politiker und Professor, der auf gewisse Weise auch nicht in die Universität „gehörte“. Und doch: welch ein Unterschied zwischen mir, meinem Leben, und ihrem. Nicht nur der Unterschied im Alter, in der akademischen Position; das war es nicht einmal. Vielmehr die Welten, die zwischen uns lagen, durch das Leben, durch die von Generationen angesammelten Lebenserfahrungen. Zum ersten Mal wurde mir wirklich klar, auf was ich mich eingelassen hatte, nach Jerusalem zu gehen mit mir im Gepäck: als Deutsche, als Katholikin, als Historikerin, als Kind aus der Provinz und einer nicht-akademischen Familie. Hier saß sie mir gegenüber: die Israelin, die Jüdin, die Historikerin, die Städterin, aus einer politisch und akademisch anspruchsvollen und mächtigen Familie. Und wir führten ein Gespräch, das nicht nur ein Gespräch zwischen uns war, sondern zwischen unseren Eltern und Großeltern, zwischen unseren nationalen Geschichten, der deutschen und der jüdischen. Alles – so verstand ich erst Wochen später – drehte sich um Distanz und Liebe, um Dazugehören und Ausgestoßensein.

Und draußen auf der Emek Refaïm liefen bunt kostümierte Purimfestbesucher vorbei, während auf der anderen Straßenseite hinter der hohen Mauer die Toten der Deutschen Kolonie in aller Stille auf ihrem kleinen Friedhof umhergeisterten.

Auf dem Fest sprach ich mein erstes hebräisches Wort: „Ani Sabine.“ Die Masken lachten und applaudierten. Noch ein Wort: „Toda!“ Man befragte mich. Ich wurde dem Dekan vorgestellt. Vor mir stand ein langer, hagerer Mann mit einer silbernen Drahtbrille und grauen sehr kurzen Haaren. Er war als Kater verkleidet, ganz in Schwarz, genau wie ich, allerdings mit einem langen Schwanz und einer Schleife um den Hals. Und mit einer Nummer auf dem Rücken, ähnlich einem Sportler. Darauf geschrieben stand „3“. Er drehte sich um. „Ich bin die Katze aus dem dritten Stock.“ ??? Meine Gastprofessorin übernahm die Erklärung: „Aus einem Kinderbuch von Leah Goldberg.“ Auf der Heimfahrt im Taxi ergänzte sie: „Das gibt es auch in einer deutschen Übersetzung.“

Nachdem ich allen vorgestellt worden war, jedem wieder und wieder erzählt hatte, worüber ich arbeitete, was ich Jerusalem suchte und wer ich eigentlich war, ließ man mich allein am Büffet stehen. Ich hatte Zeit mich umzusehen. Da gab es, wie gesagt, Kermit und Miss Piggy, zudem einen Mexikaner, viele undefinierbare Larven mit Perücken auf dem Kopf oder schräg gemusterten Hemden auf dem Leib. Es gab einen deutschen Michel: einen Mann im Schlafanzug mit weißer Zipfelmütze. Er stellte sich später allerdings als Schlafwandler vor.

Und dann war da dieses Paar. Es fiel mir sofort auf, schon als ich hereingekommen war, weil der Mann so herrlich selbstbewusst lächerlich wirkte: Wie er aussah, läßt sich am besten mit „schwulich“ beschreiben. Eigentlich war er ganz normal angezogen: schwarze Hose, weißes Hemd. Aber darüber trug er einen sanftgrünen Tütü um den Bauch, der ihm bis zu den Knien reichte, und auf dem Kopf hatte er einem Haarreif, auf dem pinkfarbene Herzen wippten, im Gesicht ein wenig Flitter. Seine Partnerin war genau das Gegenteil dieser frivolen Leichtigkeit. Sie trug einen karierten Turban und einen ebenso biederen Rock über der Jeanshose. Selbst für mich war sie als Karikatur einer verkniffenen, phantasielosen orthodoxen Frau erkennbar, die im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen anhatte.

Schon der Anblick der Beiden, wie sie gutgelaunt da standen, war von unendlicher Komik – und für mich durchaus überraschend in seinem Wagemut. Aber als sie sich dann auch noch als „Familie Vögele“ vorstellten, mußte ich mir das laute Lachen, nein das Losbrüllen, gewaltig verkneifen. Wußten sie was „vögeln“ im Deutschen auch bedeuten konnte? Sie wussten! Natürlich wussten sie. Sie mussten es einfach wissen, sie waren Studenten am Judaistischen Institut der Hebräischen Universität. Nur ich, die unwissende Schickse, konnte einen Augenblick auf die Idee kommen, sie wüssten es nicht. Nicht nur ich, auch meine Gastprofessorin war begeistert von diesem Humor. „Der funktioniert allerdings nur in Jerusalem“, meinte sie, „in Tel Aviv könnte darüber kein Mensch lachen“. In der Hauptstadt der israelischen Schwulen über „schwulische“ Orthodoxe lachen, das geht also nicht. Auch das lernte ich an diesem Purimabend.

Erst vor ein paar Wochen habe ich mir endlich das Buch von Leah Goldberg gekauft; da war sie, die Katze aus dem dritten Stock: „Im dritten Stock ist die Katze zu sehen, ihre Schleife ist besonders schön.“ In der Zeichnung daneben trägt die Katze eine pinkfarbene Schleife und ein pinkfarbenes Tütü und geschnürte Schuhe wie eine zierliche Ballettänzerin. Ihr Fell ist schwarz, wie Hose und Hemd meines Jerusalemer Dekans vor einem Jahr. Die schwarze Katze, so erfuhr ich nun, ist der Stein des Anstoßes; an ihrer Farbe macht sich die Moral der Geschichte fest: Herr Wutz, der bei den vier Tieren – der Katze, dem Kuckuck, dem Huhn und dem Eichhorn –  nicht einziehen möchte, erweist sich nämlich als rassistisches Schwein – und wird davon gejagt. Schon wieder ein Schwein, dachte ich. Arme Schweine. Mazel tov, viel Glück zu Purim!

Von Sabine Mangold-Will